Interview
Neues aus der AHK Polen

„Was und wie wir essen, entscheidet eben auch über unsere Gesundheit und wirkt sich auf unsere Umwelt aus”

28.03.2024

Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland in einem Exklusivinterview für die AHK Polen

AHK Polen: In Deutschland ist ein Wandel in der Ernährung und im Verbraucherverhalten erkennbar. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa ergab, dass der Anteil der Menschen, die täglich Fleisch essen, von 34 Prozent im Jahr 2015 auf jetzt 20 Prozent geschrumpft ist. Dafür greifen nun täglich 10 Prozent der Leute zu Alternativen tierischer Produkte, doppelt so viele wie 2020. Knapp die Hälfte der Befragten (46 Prozent) schränkt den Fleischkonsum bewusst ein – und gehört demnach zur Gruppe der "Flexitarier". 8 Prozent gaben an, sich nur vegetarisch zu ernähren, 2 Prozent vegan, Tendenz steigend. Kann man hier bereits von einem Wandel sprechen, einer „Kulturwende“?

Cem Özdemir: Ernährung verändert sich laufend. Früher waren oft wirtschaftliche Gründe dafür verantwortlich. Das ist inzwischen zum Glück anders: Viel mehr Menschen beschäftigen sich intensiver mit ihrer Ernährung und welche Auswirkungen diese auf sie selbst und die Umwelt hat. Das sehen wir an den Statistiken: Zum Beispiel ist der Fleischverzehr in Deutschland auf dem niedrigsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen 1989. Und der Ernährungsreport meines Ministeriums zeigt, dass die Menschen neugierig sind und gerne Neues – darunter auch vegetarische Produkte – ausprobieren. Das ist insgesamt eine positive Entwicklung, die sich auch in der Mitte Januar beschlossenen Ernährungsstrategie der Bundesregierung „Gutes Essen für Deutschland“ widerspiegelt.

AHK Polen: In Ihrem Blog schreiben Sie, dass Sie seit Ihrem 17. Lebensjahr Vegetarier sind. Was hat Sie zu dieser Entscheidung bewogen? Ist es heute einfacher, Vegetarier zu sein als früher? Haben Sie es auch geschafft, Ihre Familie/Freunde/Bekannte zu überzeugen, Vegetarier zu werden?

CÖ: Als ich mich entschlossen habe, kein Fleisch mehr zu essen, habe ich mit dem Thema noch Gesprächsstoff für stundenlange Diskussionen geliefert: Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass ein Leben ohne Fleisch überhaupt möglich ist. Meine Eltern versuchten gar, mir ab und an etwas unterzujubeln. Vor allem für meinen Vater war es anfangs nicht verständlich. Er arbeitete hart, damit wir uns Fleisch leisten konnten, das er als Kind in seiner türkischen Heimat fast nie bekam, und dann beschließt der Sohn plötzlich, dass er keines mehr essen will. Irgendwann haben meine Eltern es dann akzeptiert und später sogar selbst entschieden, kein Fleisch mehr zu essen. Dafür brauchten sie aber keine klugen Ratschläge von mir. (lacht) Damals war es auch nicht so einfach, fleischlose Produkte wie etwa Tofu zu kaufen. Heute gibt es in jedem Supermarkt eine breite Palette vom Lupinen-Steak bis zum Haferdrink in fünf Sorten. Mir ging es übrigens nie darum, andere Menschen von meinem Lebensstil zu überzeugen. Jede und jeder entscheidet selbst, was sie oder er isst – das halte ich auch als Bundesminister für Ernährung so. Und ich verrate ja kein Geheimnis, wenn ich sage: Auch unter Grünen gibt es große Fleischfans, so wie es Vegetarier in anderen Parteien gibt.

AHK Polen: Die von Ihrem Ministerium vorgelegte Ernährungsstrategie „Gutes Essen für Deutschland“ hat das Kabinett am 17. Januar 2024 beschlossen. Was heißt „gutes Essen“ für Sie?

CÖ: Gutes Essen sollte zunächst einmal schmecken! Was und wie wir essen, entscheidet aber eben auch über unsere Gesundheit und wirkt sich auf unsere Umwelt aus. Viele Menschen sind sich dessen bewusst und versuchen ihre Ernährung daran auszurichten. Das ist nicht immer so einfach, denn heutzutage essen viele Menschen nicht zuhause. Denken Sie da etwa an die Kinder in den Kitas und Schulen, die Arbeiter in der Fabrik oder die Menschen in den Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Das alles bringen wir in der Ernährungsstrategie zusammen – übrigens die erste, die von einer Bundesregierung in Deutschland beschlossen wurde. Wir wollen damit allen Menschen die Chance geben, sich möglichst einfach gut, gesund und nachhaltig zu ernähren.

AHK Polen: Eines der zentralen Ziele der Strategie ist „stärker pflanzenbetonte Ernährung“. Welche sind weitere wichtige Schwerpunkte der Strategie?

CÖ: Mit der Ernährungsstrategie bringen wir unterschiedliche Aspekte zusammen – etwa ausreichend Bewegung. Die beste Ernährung nutzt schließlich wenig, wenn Menschen nur noch vor dem Computer sitzen. Ernährung hat auch eine starke soziale Komponente, und leider gibt es selbst in Deutschland geschätzt drei Millionen Menschen, die von Ernährungsarmut betroffen sind. Diese Herausforderung wollen wir angehen. Zudem möchten wir das Angebot nachhaltig und ökologisch produzierter Lebensmittel erhöhen, etwa indem wir den Bio-Anteil in der Landwirtschaft auf 30 Prozent erhöhen. Ein guter Hebel ist dafür die Einkaufsmacht der Gemeinschaftsverpflegung. Und schließlich wollen wir die Lebensmittelverschwendung deutlich reduzieren, was ein relevanter Beitrag zum Klima- und Umweltschutz wäre.

AHK Polen: Bei der Vorstellung des Ernährungsreports haben Sie gesagt, die Ernährung (z.B. der Fleischkonsum) sollte entpolitisiert werden und dass dies eine Frage von Wertschätzung und Fairness sei. Was ist das Problem?

CÖ: Manche Politikerinnen und Politiker tun sich schwer mit Veränderungen oder fühlen sich scheinbar angegriffen, wenn jemand von sich aus weniger oder gar kein Fleisch essen will. Ich halte nichts davon, den Menschen vorzuschreiben, was sie essen sollen – das entscheidet bitteschön jeder für sich selbst. Es liegt kein Segen darin, unser Essen zum Kulturkampf zu machen. Die gute Nachricht ist: gute Teile der Bevölkerung sind längst viel weiter und probieren viel aus. Selbst auf dem Oktoberfest in München gibt es längst leckere vegetarische Essensangebote.

AHK Polen: Immer mehr Konsumenten möchten vegetarisches bzw. veganes Essen ausprobieren. Meinen Sie, dass die Information an die Konsumenten ausreichend ist, um sie für alternative Nahrungsmittel zu überzeugen? Welche Schritte werden hierzu unternommen? (73% kaufen solche Lebensmittel aus Neugier, 63% weil es gut für die Umwelt ist, 37% weil sie davon gelesen bzw. gehört haben). Was ist zu tun, damit der Vegetarismus zu einer bewussten und immer häufigeren Entscheidung wird?

CÖ: Mit der Ernährungsstrategie wollen wir eine echte Wahl für die Menschen durchsetzen. Wer sich pflanzlich ernähren will, soll das genauso gut tun können wie diejenigen, die Fleisch essen wollen. Aber daran hapert es momentan oft – vor allem in der Außer-Haus-Verpflegung wie etwa Kantinen oder Mensen. Jeden Tag essen dort 17 Millionen Menschen in Deutschland. Ihnen ein gutes Angebot zu machen, kann und wird viel bewirken. Daher haben wir darauf auch einen Schwerpunkt in der Ernährungsstrategie gelegt. Wenn das Essen ohne Fleisch dort super schmeckt, dann ist das ein guter Anreiz, öfter mal zum vegetarischen Gericht zu greifen. Und wenn das auch noch aus regionalen, saisonalen und am besten Bio-Zutaten hergestellt ist, umso besser.

AHK Polen: Bei der Ernährungsstrategie betonten Sie, dass in diesem Bereich alle gefordert sind, um einen Wandel einzuleiten: Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Welche Rolle der Wirtschaft sehen Sie in diesem Zusammenhang?

CÖ: Viele Lebensmittelhersteller haben längst erkannt, dass sich die Ernährung weiterentwickelt. Sie reagieren darauf, indem sie mit Erfolg auch viele pflanzliche Lebensmittel auf den Markt bringen. Hier entwickelt sich ein riesiger Markt, das habe ich in meinen Gesprächen bei der Anuga in Köln, der wichtigsten Messe für Lebensmittel, selbst erfahren. Und die großen Lebensmitteleinzelhändler haben inzwischen die Preise für viele dieser fleischlosen Produkte gesenkt, so dass sie nicht mehr teurer sind als die entsprechenden fleischhaltigen Produkte. Das ist der richtige Weg. Klar sollte aber auch sein, dass der Handel dafür nicht die Landwirtinnen und Landwirte zahlen lassen kann – das ist eine Frage der Fairness.

AHK Polen: Polen ist traditionell ein wichtiger Lebensmittelhersteller (in Polen macht der Agrarbereich 2,2 % des BIP aus, in Deutschland nur 0,9 %, EU-Durchschnitt – 1,6 %). Sehen Sie hier Bereiche, auch im Hinblick auf die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit, wo Polen und Deutschland ihre Zusammenarbeit erweitern könnten?

CÖ: Polen und Deutschland sind wirtschaftlich grundsätzlich eng miteinander verwoben. Polen ist für Deutschland der fünftgrößte Exportmarkt, übrigens noch vor dem Vereinigten Königreich oder Italien. Gleichzeitig ist Deutschland für Polen seit 20 Jahren der wichtigste Handelspartner, mehr als ein Viertel aller polnischen Exporte gehen zu uns. Agrarprodukte spielen dabei eine wichtige Rolle. Mit Blick auf die Transformation der Landwirtschafts- und Ernährungssysteme hin zu mehr Nachhaltigkeit sind Forschung, Innovation und Digitalisierung sicherlich Felder, in denen eine vertiefte Zusammenarbeit sinnvoll ist. Aber auch im Bereich der ökologischen Landwirtschaft können wir Wissen und Erfahrungen teilen, zumal ein erheblicher Teil der in Polen hergestellten ökologischen Lebensmittel nach Deutschland exportiert wird.

AHK Polen: Bei der „Grünen Woche“ in Berlin waren Sie auch Gast des polnischen Standes. Gab es etwas im Angebot polnischer Lebensmittelhersteller, das Sie besonders interessant gefunden haben?

CÖ: Polen ist für uns ein wichtiger politischer Partner, darum habe ich meinen neuen Ministerkollegen Czesław Siekierski Anfang März – kurz nach seinem Amtsantritt – besucht und durfte dort wieder einmal die berühmte polnische Gastfreundschaft und wie schon bei der Grünen Woche die vielen Köstlichkeiten genießen. Am polnischen Stand habe ich Klassiker wie eingelegte Gurken und Pilze oder Szydłowska-Pflaumen bekommen, aber eben auch eine Reihe von tollen Produkten, die ich vorher nicht unbedingt mit Polen verbunden hätte – zum Beispiel vegane Schokolade oder Bio-Apfelringe. Das waren sehr willkommene Snacks, um die langen Messe-Tage zu überstehen.

AHK Polen: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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Quelle: BMEL/Photothek