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Dirk Fünfhausen: So viele Herausforderungen auf einmal gab es noch nie

04.08.2022

Interview mit Dirk Fünfhausen, Mitglied des Vorstands der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer


Herr Fünfhausen, Unternehmen wie Messer Polska, das Sie repräsentieren, stehen als Hersteller von Industriegasen derzeit durch den Krieg in der Ukraine im Fokus. Die Bedrohung ist aktuell sehr real, dass Russland dem Westen dauerhaft den Gashahn zudreht. Wie schätzen Sie die Lage allgemein ein?

Dirk Fünfhausen (DF): Die aktuelle Versorgungssituation für Erdgas in Europa ist seit Ausbruch des Ukrainekriegs und dem Mehrbedarf der amerikanischen und chinesischen Volkswirtschaften zunehmend kritischer geworden. Die Lage hat sich jetzt noch einmal verschärft, weil Russland derzeit über die Nord-Stream-1-Pipeline nur 20 Prozent der vereinbarten Volumina liefert. Es besteht große Unsicherheit darüber, ob und bis wann die derzeitigen Lieferungen aus Russland komplett eingestellt werden. Ausdruck dieser Unsicherheit sind die aktuellen Notierungen für Erdgas an den europäischen Terminmärkten auf einem Niveau von derzeit 200 bis 220 Euro pro Megawattstunde, die damit um ein Vierfaches höher als vor einem Jahr sind. Entscheidend wird sein, vor dem kommenden Winter die Gasspeicherstände ausreichend zu erhöhen und Konzepte für die Einsparung des Gasverbrauches in Industrie und Haushalten einzuführen. Dazu kommt der Verzicht auf die Verstromung durch Gas durch die Nutzung alternativer Stromproduktion.

Erst die Pandemie und nun schon seit Monaten der Krieg. Sie sind ein Unternehmer, der schon über eine erhebliche Erfahrung verfügt. Haben Sie eine solche Anhäufung an Herausforderungen schon einmal als Manager erlebt? Haben Sie Ratschläge, wie man jetzt als Unternehmer reagieren sollte?

DF: Der Trend, dass sich massive Veränderungen in immer kürzeren Zeitabständen auf das wirtschaftliche und private Umfeld auswirken ist, nicht neu. Insbesondere die schnell fortschreitende Digitalisierung und die Globalisierung zeigen dies seit mehreren Jahren. Zusätzlich kamen unerwartete Ereignisse hinzu wie Corona als Infektionskrankheit oder die derzeitigen Spannungsfelder Ukrainekrieg / Kosovo- und Taiwankonflikt. Viele Entscheidungsträger waren davon ausgegangen, dass eine Pandemie oder kriegerische Auseinandersetzungen im derzeitigen Umfang nicht mehr stattfinden würden. Entsprechend unerwartet kamen diese Belastungen hinzu. Ich persönlich kann nur bestätigen, dass die derzeitige Anhäufung von Herausforderungen eine noch nicht dagewesene Situation darstellt.

Aufgrund der derzeitigen Belastungen ergeben sich weiter gestörte Lieferketten und rasant steigende Mehrkosten für Energie, Löhne und Gehälter, Lebensmitteln und auch Finanzierungskosten, die das Risiko hoch erscheinen lassen, dass Europa in der zweiten Jahreshälfte 2022 in eine milde Rezession fällt. In einem solchen Szenario einer sehr volatilen Wirtschaftslage ist es extrem wichtig, die für eine Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs notwendigen Cash Flows noch stärker zu sichern im Hinblick auf die Weitergabe der Kostensteigerungen und auch im Hinblick auf pozentielle höhere Zahlungsausfälle von Kunden und Wegfall von Lieferanten.

Wie sicher ist aus Ihrer Sicht der polnische Standort? Was bringt die Mitgliedschaft bei AHK Polen mit für die Unternehmen wie Messer Polska und wie sehen Sie Ihre Rolle in dem Vorstand von AHK?

DF: Aktuell ist aus unserer Einschätzung der polnische Standort noch sicherer als noch vor fünf Jahren. Auf der Basis der Lehren aus der Chipkrise und den Corona- und kriegsbedingten weltweiten Lieferengpässen orientieren sich viele europäisch Unternehmen wieder stärker zurück auf europäische Lieferketten mit kürzeren Reaktionszeiten und stabileren Rahmenbedingungen. Einziger limitierender Faktor neben dem aktuellen Krisenszenario ist weiterhin der Fachkräftemangel – verschärft noch durch den Ausfall der ukrainischen Arbeitskräfte.

Die AHK-Mitgliedschaft bringt für unser Unternehmen viele Vorteile in Hinblick auf die AHK-Angebote zur Mitarbeiterschulung und Weiterbildung als auch im Bereich des Networking in vergleichbaren oder relevanten Branchen. Natürlich ist die AHK auch ein Repräsentant der Interessen deutscher Unternehmen hier in Polen.

Die Rolle im Vorstand der AHK Polen ist für mich eine einzigartige Möglichkeit, mich mit inspirierenden Entscheidungsträgern aus völlig verschiedenen Wirtschaftsbereichen  über deren Geschäftsmodelle, Sichtweisen und Probleme vertrauensvoll auszutauschen. Dies gilt umso mehr, da die Mitglieder des Vorstands aus unterschiedlich großen und regional über Polen verteilten Unternehmen kommen. Alle Themen werden innerhalb des Vorstands konstruktiv und offen diskutiert.       

Herr Fünfhausen, herzlichen Dank für das Gespräch.