Interview
Wirtschaftsnachrichten

„Nach 20 Jahren EU-Mitgliedschaft ist Polen längst keine verlängerte Werkbank”

29.07.2024

Interview mit Paweł Kwiatkowski, Leiter Marktberatung, Mitglied der Geschäftsführung, AHK Polen

AHK Polen: Wie hat sich Polen seit dem EU-Betritt wirtschaftlich entwickelt?

Paweł Kwiatkowski: Der EU-Betritt hat natürlich eine enorme Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Polens. Ich würde aber noch einen Schritt zurückgehen und auf die 90-er Jahre blicken: nach der Wende begann tatsächlich die richtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation. Für die Menschen ergab sich eine Möglichkeit ganz schnell aufzuholen, sowohl im privaten Konsum als auch im B2B Bereich. Die Polen sind für ihre Flexibilität und Kreativität bekannt. Mit dem Ehrgeiz an den Westen anzugleichen und mit der entsprechenden Motivation und dem Arbeitswillen haben die Polen die Ziele optimal umsetzen können. Deutsche Unternehmen haben natürlich auch die Chance ergriffen und sich für die Erschließung des polnischen Marktes entschieden. Zunächst war es ein wirtschaftlicher Schock, aber im Laufe der Jahre haben sich die Polen ganz schnell angepasst und gelernt. Mit dem EU-Beitritt ging dann alles noch viel schneller. Nach 20 Jahren EU-Mitgliedschaft ist Polen längst keine verlängerte Werkbank und kein Niedriglohnland für deutsche Unternehmen. Das was man früher als „polnische Wirtschaft“ bezeichnet hat, d.h. mangelnde Effektivität, Rückstand, veraltete Produktionsprozesse, wurde mit jedem Jahr nach dem EU-Betritt zum Synonym vom Wirtschaftswunder. Heute ist Polen tatsächlich auf der Überholspur und wird auch so von ausländischen Unternehmen wahrgenommen.

Die Dynamik des Wachstums ist ein Vorzeigebeispiel für die wirtschaftliche Entwicklung: seit 2004 haben wir in Polen ein dreifaches BIP Wachstum im Vergleich zu anderen EU Ländern. Seit 1990 hat sich das polnische Bruttoinlandprodukt mehr als verzehnfacht. Zu den wesentlichen Wachstumsmotoren gehörten eine stabile, diversifizierte und krisenresistente Wirtschaft, mit einer starken Rolle des verarbeitenden Gewerbes, ausländische Direktinvestitionen sowie EU-Fördergelder, von denen Polen in den letzten sowie der aktuellen Förderperiode einer der größten Profiteure ist. Die Fördermittel werden ganz effektiv in diverse Projekte umgesetzt und tragen natürlich zu der wirtschaftlichen Entwicklung bei. Die Polen sind ohne Zweifel EU Befürworter. Übrigens ist der private Konsum auch ein wichtiger Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung. Alles in einem – mit der neuen Regierung und dem positiven Dialog zu Deutschland und der EU wird es in Polen in den nächsten Jahren sicherlich einen weiteren Schwung geben. Unsere AHK beobachtet schon seit November 2023 verstärktes Interesse von deutschen Unternehmen bei Absatz- und Beschaffungsprojekten in Polen. Sehr gerne unterstützen wir natürlich diese Maßnahmen und wollen als AHK auch aktiv dazu beitragen, dass die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen sich weiterhin so dynamisch entwickeln.

AHK Polen: Welche Bedeutung spielt es insbesondere für deutsche Unternehmen? Und wie hat sich diese Beziehung in den vergangenen Jahren entwickelt?

PK: Deutsche Unternehmen haben natürlich die sich aus dem Potenzial des polnischen Marktes ergebenden Möglichkeiten schnell erkannt. Mit fast 40 Millionen Einwohnern ist Polen ein sehr attraktiver Absatzmarkt und sehr breit aufgestellt. Wenn es um die Investitionen geht war es am Anfang eher die Verlagerung von ganz einfachen Produktionsprozessen ohne richtiges know-how Transfer. Die niedrigen Lohnkosten waren damals sicherlich entscheidend. Mit der Zeit hat sich das aber geändert: die Wirtschaft hat sich auf wissensintensive und hochinnovative Sektoren umgestellt. Dies begann mit ausländischen Investitionen und natürlich mit der Kreativität der lokalen Unternehmer. Die Investitionen hatten einen großen Einfluss auf den Arbeitsmarkt und die Weiterbildung der Polen. Heute sind deutsche Unternehmen für ca. 25% aller FDI verantwortlich. Mehr als 7000 Unternehmen mit deutschem Kapital sind in Polen vertreten. Die Handelsbeziehungen mit Deutschland sind für die polnische Wirtschaft von großer Bedeutung. Deutschland ist ganz klar der wichtigste Handelspartner für Polen, Polen liegt auf Platz 5 bei den wichtigsten Handelspartnern Deutschland, sogar auf Platz vier beim Import. Mittlerweile liegt das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern bei über 170 Mrd. EUR. Zum Vergleich: 1995, als AHK die Tätigkeit in Polen aufgenommen hat, belief sich das Handelsvolumen auf 8 Mrd. EUR. Nach 2020, als Pandemie bedingt, und dann nach 2022 bedingt durch die geopolitische Lage, haben wir es mit einem jährlichen Wachstum von ca. 14% zu tun. Sie sehen als die unglaubliche Dynamik, die dahintersteckt, die wir als AHK bei unseren Projekten auch bestätigen können. Vor allem entstehen tolle Synergieeffekte zwischen unseren Ländern, sowohl im Bereich Nearshoring als auch im Markteintritt. Die europäische Konsolidation und Zusammenarbeit wird immer wichtiger und Polen bietet sich hier sehr gut an. Es werden tolle Anreize für Investitionen geschaffen. Auch wenn der Arbeitsmarkt nicht ganz leicht ist sind die Polen nach wie vor motiviert und wollen mehr leisten. Das ist für deutsche Unternehmen ein ganz wichtiger Faktor. Gleichzeitig sind sich polnische Unternehmen bewusst, dass man in Automatisierungstechnik, Robotik, Maschinenbau und Industrie 4.0 Lösungen investieren muss – hier sind deutsche Technologien sehr gefragt. Solche Investitionen erlauben den polnischen Unternehmen noch konkurrenzfähiger zu bleiben um deutsche Unternehmen beliefern zu können und um den Anforderungen, vor allem im Bereich Qualität, nachzukommen. Das ist nur ein Beispiel für die Bedeutung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Beide Länder profitieren und ergänzen sich.

AHK Polen: Wo liegen heute Chancen für deutsche (insb. bayerische) Unternehmen?

PK: Chancen ergaben sich vor allem der Freigabe der Mittel aus dem Wiederaufbaufonds der EU, d.h. rund 60 Mrd. EUR, die insbesondere für digitale und grüne Investitionen vorgesehen werden.  Wir haben in Polen eine hohe Industrialisierung, d.h. es besteht eine große Anzahl an industrieller Abnehmer aus diversen Branchen. In allen Bereichen ist der Technologietransfer notwendig. Es sind weitere Investitionen nötig um das weitere Wirtschaftswachstum zu stimulieren, d.h. gefragt sind Investitionen in die Transformation und weitere Modernisierung der Maschinenparkanalegen unter Berücksichtigung des Manufacturing X sowie der KI. Es müssen Änderungen im Bereich des Klimaschutzes und der erneuerbaren Energien auftreten. Infrastrukturprojekte sind auch ganz wichtig. Auch wenn die Autobahn- und Schnellstraßen Verbindungen nicht mit dem zu vergleichen sind was wir noch vor 10 Jahren in Polen vorgefunden haben gibt es weitere Projekte, die Polens Rolle in Europa als logistische Drehscheibe noch verstärken sollen. Dazu gehört auch das Riesenprojekt des Zentralflughafens mit der dazugehörigen Schieneninfrastruktur. Viel Potenzial bietet auch der Bereich e-mobility. Für bayerische Unternehmen gibt es hohes Kooperationspotenzial in den Bereichen Medizintechnik (hier insbesondere Anwendung der KI, additive Fertigung, digitale Gesundheitsversorgung), elektrische Verkehrsantriebe, 5G in der Anwendung, Cybersicherheit, Energiespeicher, Wasserstoffproduktion, Energieeffizienz und Big date in der Energieoptimierung.

AHK Polen: Welche Rolle spielt Polen z.B. für die Produktion deutscher Unternehmen? 

PK: Im Bereich Beschaffung ist Polen ein sehr attraktiver Partner: wie erwähnt bietet Polen Dank Investitionen in den Ausbau der Maschinenparkanlagen ein optimales Preis-Leistungsverhältnis. Wir machen immer wieder die Erfahrung bei terminierten Gesprächen mit polnischen Produzenten, dass deutsche Unternehmen vom Qualitätsmanagement und den Produktionsprozessen beeindruckt sind. Für Polen spricht die geographische Nähe, gute Verkehrsverbindungen sowie kurze Lieferzeiten. Zu wesentlichen Faktoren gehört auch ein sehr geringes Risiko im Vergleich zu ostasiatischen Ländern, d.h. keine Handelshemmnisse dank der EU Mitgliedschaft.

Im Bereich Verlagerung von Produktion ist Polen einer der attraktivsten Investitionsstandorte in MOE. Es gibt nach wie vor Potenzial, das sich aus dem Arbeitsmarkt ergibt: im Bereich der Berufsausbildung werden Programme nach den deutschen Prinzip eingeführt, gleichzeitig hat Polen eine ausgeprägte Hochschullandschaft und ein hohes Niveau der akademischen Bildung gerade im technischen Bereich. Jeder zweite Student in der MOE-Region studiert an einer polnischen Hochschule. Natürlich spüren wir auch einen Fachkräftemangel, aber eine steigende Zuwanderung aus Osteuropa stützen den Arbeitsmarkt. Und ganz wichtig ist die Produktivität und die Motivation der Arbeitnehmer. Neben der EU-Mitgliedschaft, Qualifikation der Arbeiter und der Qualität und Zugang zu lokalen Zulieferern ist das eins der am Besten bewerteten Kriterien von Investoren.

AHK Polen: Oder für Kooperationen inbs,. im Bereich IT oder Innovation? 

PK: Polen ist die Nummer 1 in MOE wenn es um die Anzahl der IT Spezialisten geht. In jeder größeren Stadt finden Sie sehr guten Zugang zu IT Experten. Das macht Polen auch so attraktiv bei Investitionsprojekten, da bei jedem neuen Vorhaben Digitalisierung als Priorität betrachtet wird. Dazu gehört auch der Einsatz der Künstlichen Intelligenz, IoT und cloud. Ganz wichtig ist der Bereich cyber security, hier werden viele Investitionen von der polnischen Regierung angekündigt. Führende deutsche und amerikanische Unternehmen investieren in Shared Service Center und Business Process Outsourcing. Es werden Forschung- und Entwicklungszentren geschaffen. Grundsätzlich muss man sagen, dass die polnische Gesellschaft sehr offen gegenüber Technologien und Digitalisierung ist, das sieht man z.B. daran wie schnell unterschiedliche bargeldlose Zahlungsmethoden sich erfolgreich in Polen etabliert haben, darüber hinaus haben Polen eigene digitale Zahlungsmethoden entwickelt, wie BLIK. Laut neuestem Ranking belegt Polen den 2. Platz hinter den Niederlanden unter den cashless countries in Europe.

AHK Polen: Was sind spannende Märkte in Polen für den deutschen Export (also Bedeutung des Landes als Absatzmarkt für deutsche Unternehmen)?

PK: Deutschland ist Polens wichtigster Beschaffungsmarkt, ca. 20% polnischer Importe stammen aus Deutschland, die Produkte sind weit bekannt und geschätzt. Wir haben in Polen weiterhin viele Bereiche in denen die Technologien fehlen und die besonders importabhängig sind, z.B. Maschinenbau. Um diese Wachstumsdynamik zu erhalten sind Investitionen in unterschiedlichen Bereichen notwendig, deswegen befinden wir uns derzeit weiterhin in einer Modernisierungsphase und Transformation, insbesondere im Bereich Infrastruktur sowie erneuerbare Energien aber auch Steigerung der Effizienz durch Automatisierung, da die Arbeitskosten in den letzten Jahren enorm steigen. Wichtige Wachstumsimpulse sowie Chancen bieten die EU-Fördermittel, es sind viele Projekte zu erwarten, die schnell umgesetzt werden müssen, da die Auszahlung der Mittel sich um 3 Jahre verzögert hat. In Bezug darauf bestehen die größten Potenziale in den Bereichen, wo Investitionsbedarf besteht oder Bedarf am Technologietransfer besteht. Zu solchen Sektoren gehören: Energie- und Umwelttechnik, Industrie 4.0., Medizintechnik und Digital Health oder E-Mobilität und Ladeinfrastruktur.

AHK Polen: Was sind umgekehrt spannende und gefragte Produkte aus Polen für den deutschen Import? 

PK: Polen bietet ein diversifiziertes Netz und starke Präsenz von Unternehmen aus dem Bereich der Verarbeitung, vor allem sind Unternehmen aus der Metall- und Kunststoffverarbeitung und der Holzverarbeitung in jeder Region in Polen gut aufgestellt. Zu beachten ist allerdings, dass die Auftragsbücher der Lieferanten auch voll sind, d.h. es ist ganz wichtig bei den Beschaffungsprojekten mehr Zeit einzuplanen, vor allem wenn man mit einem seriösen Geschäftspartner zusammenarbeiten will. Polen ist auch sehr stark im Automotive Bereich. Dazu gehört auch der E-Mobilty Bereich: Polen ist EU-weit der größte Exporteur von E-Bussen. Das Unternehmen LG betreibt in Polen die größte europäische Fertigung von Lithium-Ionen-Batterien für E-Autos. Des Weiteren ist Polen der größte Hersteller von Haushaltswaren in der EU. Ähnlich ist Polen im Bereich Möbel, Fenster und Türen aufgestellt: Polen ist der größte Möbelexporteur weltweit, z.B. die Hälfte aller Holzmöbel von IKEA sind „made in Poland“. Zu einem wichtigen Wirtschaftszweig gehört auch die Lebensmittelindustrie und die Chemieindustrie.

AHK Polen: Wo verorten Sie die Zukunftssektoren Polens? 

PK: Polen wird sich zunehmend auf innovativen und digitalen Produkten spezialisieren. Das ist die natürliche Erkenntnis, die sich aus der aktuellen Marktsituation ergibt. Ich glaube wir können viele Bereiche auf einen Nenner bringen, nämlich Digitalisierung. Der IT Bereich findet Anwendung in vielen Sektoren: e-commerce, Logistik, Bauen 4.0, Medizin 4.0 und Medizintechnik, smart city, Robotik – das alles sind in meiner Auffassung die Zukunftstrends in Polen. Des Weiteren sehe ich viel Potenzial im Bereich Luft- und Raumfahrt und der Künstlichen Intelligenz. Ganz klar gehört und die Energietransformation dazu. Zum Glück decken sich die Sektoren mit den Trends der deutschen Wirtschaft, was hoffentlich die Dynamik und die Zusammenarbeit zwischen deutschen und polnischen Unternehmen noch mehr stärkt. Als AHK Polen sind wir da zuversichtlich.

AHK Polen: Welche Rolle kann Polen im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel in Deutschland spielen?

PK: Der Fachkräftemarkt ist in der Tat auch eine große Herausforderung in Polen. Aus diesem Grund wird viel in Automatisierungstechnik und Robotik investiert. Wie erwähnt spielen die polnischen IT Spezialisten auch eine Schlüsselrolle bei der Implementierung von neuen und innovativen Produktionsprozessen um die fehlenden Fachkräfte zu ersetzen. Dies bietet eine weitere Möglichkeit für deutsche Unternehmen um einige Produktionsprozess zu nach Polen zu verlagern. Mit wenig Bürokratie hat man in Polen auch gute Bedingungen für Fachkräftegewinnung aus Osteuropa geschaffen, vor allem aus der Ukraine. Polen kann als Partner bei der Anwerbung und Ausbildung von Fachkräften fungieren, um den Bedarf der deutschen Wirtschaft zu decken. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern kann dazu beitragen, die Verfügbarkeit von Fachkräften zu erhöhen. Des Weiteren kann in die allgemeine und berufliche Bildung investiert werden, um Arbeitnehmer mit den richtigen Fähigkeiten auszustatten. Die Unterstützung von Berufsbildungsprogrammen kann dazu beitragen, den Bedürfnisse des Arbeitsmarktes in Deutschland zu decken.

Paweł Kwiatkowski, Leiter Marktberatung, Mitglied der Geschäftsführung, AHK Polen