Die deutsche Wirtschaft sucht in einer veränderten globalen Landschaft nach neuen Partnerschaften. Bei der Europakonferenz der Deutschen Auslandshandelskammern (AHK) am 3. und 4. Oktober 2024 in Warschau stand vor allem die Region Mittel- und Osteuropa im Mittelpunkt.
Politik und Unternehmen lobten die Dynamik der Region, in der Partner für entscheidende Zukunftsfelder wie Digitalisierung, neue Mobilität sowie Sicherheit und Resilienz zur Verfügung stehen. Umgekehrt mahnten polnische Sprecher zu mehr europäischer Integration und einer Führungsrolle Deutschlands.
„Mittel- und Osteuropa – und allen voran Polen – hat sowohl politisch als auch wirtschaftlich deutlich an Bedeutung für die Europäische Union und die europäische Wirtschaft gewonnen“, betonte der Europasprecher der deutschen Auslandshandelskammern (AHK), Michael Kern: „Es lohnt sich daher für deutsche Unternehmen, das Geschehen in diesem Teil Europas genau zu beobachten und nach neuen Möglichkeiten der europäischen Zusammenarbeit zu suchen.“
Es sei daher kein Zufall, dass die alle zwei Jahre stattfindende Europakonferenz der deutschen Auslandshandelskammern in diesem Jahr erstmals nach Polen gekommen sei. „Deutschland und Polen teilen dieselben Interessen“, so Kern: „Wir wollen einerseits die Klima- und CO2-Ziele erreichen, andererseits unsere Industrien wettbewerbsfähig halten.“
Mehr als 250 Expertinnen und Experten aus über 30 Ländern diskutierten in Warschau Themen wie die Digitalisierung der Industrie, robuste Lieferketten in einer sich entglobalisierenden Welt, Elektromobilität und die Integration der Ukraine in die Europäische Union. Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa stehe auf Feldern wie dem Mobilitätssektor, vor allem der Automobilwirtschaft, der Künstlichen Intelligenz, der Energiewende und der Versorgung mit Rohstoffen vor großen Herausforderungen, waren sich die meisten der Sprecherinnen und Sprecher einig. Dennoch habe es der Kontinent in der eigenen Hand, seine Zukunft erfolgreich zu gestalten.
Aus deutscher Sicht stehe dabei ein enger Schulterschluss mit Partnern aus der Region im Vordergrund, betonte Udo Philipp, Staatssekretär im deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Polen sei schon heute der fünftwichtigste Handelspartner Deutschlands, und die Zusammenarbeit wachse kontinuierlich. Für die erfolgreiche Bewältigung der wichtigen Zukunftsfragen sei einer weitere Vertiefung der Kooperation wünschenswert. Sein Gegenüber, der polnische Staatssekretär Ignacy Niemczycki, nahm diese Vorlage nur zu gerne auf: Deutsche Partner seien gefragt, um bei den anstehenden Umwälzungen der polnischen Wirtschaft mit anzupacken. So muss Polen etwa seine noch immer stark fossile Energiewirtschaft in kurzer Zeit auf Erneuerbare Energien umstellen. Dafür stehen in den kommenden Jahren große Fördersummen zur Verfügung, teilweise aus dem jetzt freigegebenen Fördertopf der Europäischen Union.
„Derzeit ist eine gewisse Verunsicherung in Polen zu spüren, wenn es um die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland geht“, so Lars Gutheil, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer (AHK Polen). „Umso wichtiger war es, dass die deutsche Wirtschaft hier in Warschau deutlich aufgezeigt hat, dass sie in Zukunftsfeldern weiterhin in der Spitze mitspielen möchte.“
Genau dies wünschen sich auch die Partner aus Mittel- und Osteuropa, deren Ökonomien häufig stark mit Deutschland verknüpft sind. Allein Polen haben deutsche Investoren über 450.000 direkte Arbeitsplätze geschaffen. Mehr als ein Viertel der polnischen Exporte geht zum westlichen Nachbarn.
Polens ehemaliger Ministerpräsident und Ökonom Marek Belka stellte der Führungskraft Deutschlands ein eher mittelmäßiges Zeugnis aus. Europa müsse sich insgesamt von seiner „Kultur der Sicherheit“ verabschieden, um weltweit wettbewerbsfähig zu bleiben. „Wir Europäer sind gut darin, Probleme zu diagnostizieren, aber nicht so gut darin, sie zu lösen“, bemerkte er. Ihm zufolge brauche der Kontinent viel mehr als nur Geld, sondern eine tiefere Integration, um zukünftige Herausforderungen effektiv anzugehen. Dies war ein Plädoyer für mehr EU, die Belka mit einem Verweis auf den Draghi-Report untermauerte. Nur gemeinsam könnten die europäischen Länder ihre gemeinsamen Interessen in einer sich verändernden und instabilen Welt wirksam verteidigen.
Einen direkten Aufruf an die deutsche Wirtschaft startete Oliver Gierlichs, Geschäftsführer von Bayer Ukraine und Präsident der dortigen deutschen Auslandshandelskammer: „Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, in der Ukraine zu investieren.“ Das Land sei, ebenso wie die mittel- und osteuropäischen EU-Staaten, enorm dynamisch und zeige nicht zuletzt in der Verteidigung gegen die russische Aggression seine Innovationskraft. Wer rechtzeitig vor Ort sei, könne auch am meisten von den zu erwartenden Veränderungen nach dem Krieg profitieren. Und: „Es wird für die Menschen einen Unterschied geben zwischen denen, die schon früh gekommen sind, als das Land sie brauchte, und denen, die sich erst später angestellt haben, als es ans Geldverdienen ging.“
Die AHK-Europakonferenz wurde von der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer zusammen mit mehr als 30 weiteren deutschen AHKs organisiert. Die nächste Konferenz soll 2026 in Lissabon stattfinden.