Die Wirtschaften vieler europäischer Länder sind durch die Krisen der letzten Jahre unter Druck geraten. Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben zu Störungen der Lieferketten, einer Energiekrise und einer hohen Inflation geführt. Aus polnischer Sicht erscheinen die seit mehr als zwei Quartalen beobachteten Trends in der deutschen Wirtschaft, wo konjunkturelle und systemische Faktoren zu einer deutlichen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums geführt haben, besonders beunruhigend. Deutschland ist die größte Wirtschaft in der Europäischen Union und hat zahlreiche Verbindungen zu Polen.
Welche Auswirkungen könnte die derzeitige Situation auf Polen, Deutschland und Europa haben - aktuell und auf lange Sicht? Ist es gerechtfertigt zu sagen, dass Deutschland "Europas kranker Mann" wird, wie "The Economist" es einmal formulierte? Diese Fragen wurden von Experten diskutiert: Rafał Benecki, Chefökonom der ING Bank Śląski, Dr. Marek Rozkrut von EY und Lidia Gibadło vom Zentrum für Oststudien während eines Treffens des Finanzklubs der AHK Polen am 19. September.
Wirtschaftliche Abkühlung in Deutschland
Aus der deutschen Wirtschaft kommen besorgniserregende Nachrichten: Verschiedene Indikatoren wie der vom Ifo-Institut ermittelte Wirtschaftsklimaindex deuten auf einen weiteren Rückgang hin. Die deutsche Industrie spürt die Auswirkungen des weltweiten Abschwungs, während hohe Energiekosten und eine alternde Bevölkerung auch die Wirtschaft Polens vor Herausforderungen stellen. Demografische Probleme und Fachkräftemangel sind seit vielen Jahren zunehmend wichtige Faktoren, die die deutsche Wirtschaft negativ beeinflussen. In jüngster Zeit ist die Liste der Probleme um hohe Produktionskosten und ein nachlassendes Interesse an Erzeugnissen der Automobilindustrie erweitert worden. Rafał Benecki, Chefökonom der ING Bank Śląski, nannte darüber hinaus das schwache Tempo der digitalen Transformation und die unzureichenden Investitionen in diesem Bereich sowie hohe Steuern und Bürokratie, die Investitionen in anderen Sektoren abschreckend wirken. Die Jahre 2010 bis 2017, nach dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten zur Europäischen Union, waren eine Zeit des neuen "Wirtschaftswunders" in Deutschland. Die deutsche Wirtschaft erhielt einen Zufluss an billigen Arbeitskräften und das Interesse an Industriegütern aus Deutschland stieg. Auch China spielte eine wichtige Rolle und entwickelte die Zusammenarbeit mit Deutschland auf vielen Ebenen. Diese Zeiten gehören jedoch der Vergangenheit an. Die Stimmung der Deutschen ist heute pessimistischer als sonst, was sich in einem geringeren Konsum niederschlägt. Die Haushalte halten sich mit Kaufentscheidungen zurück, unter anderem aus Angst vor Inflation und hohen Energiekosten im Winter.
Die wirtschaftliche Abkühlung lässt sich auch an den Ergebnissen des Handels zwischen Polen und Deutschland ablesen. Obwohl der Handel (Exporte und Importe) zwischen Polen und Deutschland in der ersten Hälfte dieses Jahres um sechs Prozent gestiegen ist, spiegeln die detaillierten Zahlen die aktuelle Abschwächung in Deutschland wider. Unser westlicher Nachbar exportierte Waren im Wert von 44,6 Milliarden Euro nach Polen, was eine Stagnation bedeutet (ein Anstieg von 0,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Bei den Einfuhren aus Polen sieht es dagegen besser aus: Das Wachstum betrug 12,2 Prozent und der Wert der aus Polen eingeführten Waren belief sich auf 41,7 Milliarden Euro. Dieses Ergebnis veranschaulicht jedoch nicht nur den Zustand der Wirtschaft in Deutschland, sondern kann auch ein Zeichen für den Umbau der Lieferketten sein.
Die Situation in Polen - Inflation, Preise und Lohndruck
Polen sollte hier vorsichtig bleiben, denn auch wenn es mittlerweile weniger wahrscheinlich ist, dass wir uns "eine Lungenentzündung wegen dem deutschen Schnupfen zuziehen" - um bei der medizinischen Metapher zu bleiben - gibt es andere Risiken für die Wirtschaft in Polen, zum Beispiel in Form von deutlichen Zinssenkungen. Dies könnte dazu führen, dass der Zloty schwächer wird und die Inflation über einen längeren Zeitraum anhält. Die gute Nachricht ist, dass die negativen Auswirkungen des demografischen Wandels bis zu einem gewissen Grad durch die Zuwanderung ausgeglichen werden, und Polen hat die niedrigste Arbeitslosigkeit in Europa. Polen steht vor einer Zeit interessanter Möglichkeiten - wir stehen an der Spitze, wenn es darum geht, den Markt mit Programmierern zu versorgen, die zu unserem nationalen Trumpf werden.
Die Experten weisen darauf hin, dass bei weiteren Zinssenkungen große Zurückhaltung geboten ist, und die Inflation dürfte ihrer Ansicht nach in zwei bis drei Jahren wieder das Ziel erreichen. Die Reallöhne bewegen sich in der Wachstumszone, und der Lohndruck seitens der Arbeitnehmer ist ebenfalls offensichtlich.
Strukturelle Herausforderungen in Deutschland
Zu den wichtigsten Gegenwindfaktoren Deutschlands gehören die schwächelnde Wirtschaft in China, das unvorhersehbare Ende des Krieges in der Ukraine, die geringere Nachfrage nach Autos und der weit verbreitete Pessimismus der deutschen Verbraucher. Weitere Spannungen zwischen den USA und China könnten sich auf die deutsche Wirtschaft auswirken. Die deutsche Politik in den Handelsbeziehungen mit China ist eng mit der Politik der Europäischen Union in diesem Bereich verknüpft. Einerseits will Deutschland China nicht antagonisieren, da es nicht nur ein Zulieferer und Produzent, sondern auch ein großer Endmarkt für deutsche Produkte ist, andererseits versucht es, sich von der chinesischen Wirtschaft unabhängig zu machen, auch weil China selbst wirtschaftliche Probleme hat. Dies führt dazu, dass neue Wege gesucht werden, die sich auf afrikanische Länder, Südamerika und Indien erstrecken. Dies wird als de-risking bezeichnet, d. h. als Diversifizierung der Kooperationskanäle.
Perspektiven
Deutschland ist und bleibt einer der strategischen Wirtschaftspartner Polens; immerhin geht mehr als ein Viertel der polnischen Exporte nach Deutschland. Es ist daher notwendig, die Zeit des wirtschaftlichen Abschwungs abzuwarten, sich weiter gegenüber Deutschland zu öffnen und die Zusammenarbeit in strategisch wichtigen Bereichen auszubauen. Rafał Benecki warnte, dass das nächste Jahr zwar ein Jahr der Stagnation in Deutschland sein könnte, dass aber sowohl Deutschland als auch Polen in der Zukunft gemeinsam eine große Rolle im Prozess des Wiederaufbaus der Ukraine spielen können. Für Polen ist dies wirtschaftlich ein sehr guter Zeitpunkt. Marek Rozkrut betonte die Bedeutung der Veränderungen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben: Wir sind nicht mehr das Montagewerk Europas, wir haben eine Menge an qualifizierten Arbeitskräften zu bieten, wir bieten ein günstiges Investitionsklima, Polen ist in der Wertschöpfungskette deutlich aufgestiegen. Wir müssen uns als Partner sehen. Lidia Gibadło wies darauf hin, dass die Energiewende und die EU-Vorschriften nach wie vor ein wichtiger Aspekt für die Entwicklung beider Wirtschaften sind.
Wie man sparen kann, ohne zu sparen
Der letzte Teil des Treffens war Steuerfragen gewidmet. Experten von EY Polen sprachen darüber, wie man echte Einsparungen erzielen kann, ohne zu sparen, und zeigten verschiedene Optionen auf, die man bei Steuern und steuerbezogenen Kosten nutzen kann. Die Teilnehmer der Sitzung konnten eine TAX-Agenda mitnehmen, eine Liste von Punkten, die in den kommenden Monaten auf der Liste der Finanz-/Steuerdirektoren stehen sollten.
Die Veranstaltung wurde online vom Regionalbüro der AHK Polen in Poznań an die Niederlassungen der Kammer in Wrocław, Katowice, Gdańsk und Warschau übertragen.
Wir möchten uns bei den Partnern der Veranstaltung bedanken: ING Bank Śląski und EY Polska für die interessante Diskussion.